22. Schritte in den Alltag
Hinter mir lagen fünf Monate Krebsgeschichte mit Chemotherapie, Operationen, Nebenwirkungen und Erholung.
Zwischen Mai und Oktober 2022 hatte ich schon so viele Meilensteine passiert, dass sich die Zeit trügerisch lang anfühlte. Ich blickte zurück und sah einen weiten Weg. Und dann schaute ich nach vorne - und da war er noch so viel weiter. Der weitere Verlauf meiner Therapie erstreckte sich in dem Moment endlos vor mir. Die Meilensteine würden seltener werden und weiter auseinanderliegen, doch das Ziel war noch nicht in Sicht.
Es war an der Zeit, mich mit einem neuen Alltag als Krebspatientin auseinanderzusetzen.
Fluch und Segen meines Tumortyps war nun einmal, dass er auf viele unterschiedliche Therapien ansprach - und entsprechend viele davon erforderte. Als nächstes auf der Liste: das Antikörper-Wirkstoff-Konjugat Kadcyla. Ich lernte, dass es sich dabei doch nicht um die ursprünglich geplante Antikörper-Therapie handelte. Da das entfernte Gewebe nicht restlos tumorfrei war, würde diese nicht ausreichen. Stattdessen brauchte ich eine Kombination aus Antikörper und Chemo, eben ein Konjugat.
Im Gegensatz zu einer reinen Chemotherapie wird der Wirkstoff bei einem Konjugat direkt zu den Tumorzellen transportiert und kann sich gezielt da entfalten. Dadurch sind die Nebenwirkungen geringer und die Therapie insgesamt viel verträglicher. Also eigentlich die perfekte Lösung - wäre sie nur nicht so teuer. Eingesetzt wird diese Therapie nämlich erst, wenn andere ausgeschöpft sind, weil die Krankenkassen sie erst dann übernehmen. Lebensqualität hat eben doch einen Preis…
Nun war ich aber offenbar qualifiziert für dieses Wundermittel, das überhaupt erst seit 10 Jahren zugelassen war. Am 18. Oktober erhielt ich meine erste Dosis, vierzehn weitere sollten im Abstand von jeweils drei Wochen folgen. Die Nebenwirkungen hielten sich mit nur etwas Müdigkeit und Gelenkschmerzen in Grenzen. Wenige Tage nach der Infusion war ich schon wieder auf den Beinen. Und das Beste: im Gegensatz zur Chemo kamen die Beschwerden nicht in Wellen. Sie kamen - und wenn sie wieder gingen, waren sie weg. Und das Therapie für Therapie in einer nie da gewesenen Konstanz. Endlich.
Vielleicht musste ich also doch nicht mehr alles dem Krebs unterordnen. Vielleicht gab es tatsächlich einen Alltag ausserhalb der Krankheit: als Freundin, Kollegin, Schwester, … kurz: als Frau mit vielen Facetten, Interessen und Bedürfnissen.
Ich wagte zu hoffen und hatte vor allem auch wieder Lust auf andere Themen, andere Gespräche, andere Emotionen. Als erste Konsequenz beschloss ich, nicht länger über den Krebs zu sprechen. Ab da erwähnte ich den Chemo-Anteil meiner Therapie nicht mehr und nannte es schlicht „Antikörper-Therapie“. Nicht die ganze Wahrheit, sondern eine entschärfte Version. Eine, mit der niemand etwas anfangen konnte, die niemanden in Angst versetzte - und die vor allem nicht zu Diskussionen oder Mitleid einlud.
Wenn ich schon diesen langen Weg vor mir hatte, wollte ich zumindest selbst bestimmen, wie ich ihn gehe.