21. Gute Tage, schlechtes Gewissen
Am 3. Oktober 2022 nahm ich meine Arbeit offiziell wieder auf. Meine Therapie war zwar noch lange nicht abgeschlossen, doch ich sehnte mich nach einem krebsfreien Fokus – und hatte wegen der 138 Tage Krankschreibung einige Gewissensbisse.
138 Tage. Das klang länger als mir lieb war. Sehr viel länger als erwartet.
Schon als ich meinem Team von der Diagnose erzählte, ergänzte ich wie selbstverständlich, dass ich nicht lange ausfallen würde. Ohne die geringste Ahnung von meiner Krankheit oder Therapie war ich doch überzeugt, dass mich beides nicht von der Arbeit abhalten würde - oder dürfe. Nach meinem Selbstbild war ich eine arbeitende Patientin. Was denn auch sonst?
Es kam die erste Chemotherapie und mit ihr die erste Krankschreibung. Ganz selbstverständlich und ohne Diskussion. Niemand wollte abwarten, ob ich die Therapie vielleicht „gut vertrage“. Niemand fragte, wie es mir ging. Ich musste mich weder krank fühlen noch so aussehen – krank war ich trotzdem. Das war allen klar. Nur mir nicht. Ich wartete stets darauf, dass da noch mehr kommen würde, dass es schlimmer würde, dass mir die Therapie endlich meine Arbeitsunfähigkeit beweisen würde.
So, wie es die Krankschreibung doch eigentlich verlangte. Oder?
Dabei sollte sie das Gegenteil bewirken. Sie sollte Raum schaffen für Genesung. Sie sollte gute Tage ermöglichen und mich, die Patientin, befähigen, diese zu geniessen. Stattdessen bescherte sie mir ein schlechtes Gewissen - und die ständige Sorge, als Betrügerin aufzufliegen. So versteckte ich mich am Gurtenfestival vor einem Arbeitskollegen - anstatt mit ihm zu feiern, dass ich Energie hatte für 2 Stunden friedliches Musikhören.
Denn: Wer feiern kann, kann auch arbeiten.
Oft gehört und offensichtlich gut verinnerlicht. Gilt dann auch der Umkehrschluss? Wer arbeitet, kann in jedem Fall feiern? Noch Monate nach meiner Rückkehr, reichte meine Energie nie für beides. Das Ende eines Arbeitstages war für lange Zeit das tägliche Ende meiner Kraft. Hätte ich da das Pensum wieder reduziert, wäre mir dann eine Zacke aus der Krone gebrochen? Vermutlich. Denn wenn mich jemand fragte, ob ich während der Therapie gearbeitet habe, dann antwortete ich nie mit einem selbstbewussten Nein. Stattdessen beschrieb ich Nebenwirkungen oder rechtfertigte gute Tage mit schlechten. Und das noch Jahre später - bis heute. Erst während ich diesen Text schreibe, wird mir die ganze Absurdität bewusst.
Unterbewusst weiss ich’s aber zum Glück schon lange; die 138 Tage Krankschreibung waren wichtig und richtig. Wenn nicht für meinen Körper, dann für meinen Geist. Als ich die Arbeit wieder aufnahm, tat ich dies mit neuer Empathie und Weichheit. Ich hatte plötzlich Verständnis für Ausfälle, für schlechte Tage und schwankende Leistung. Ich ermutigte mein Team, Grenzen ernst zu nehmen, Grippen zu Hause auszukurieren, Schwächen zu akzeptieren. Alles, was ich mir selbst noch immer kaum zugestand.
Lange dachte ich deshalb, der Krebs hätte meine Haltung zur Arbeit verändert. Dass ich desinteressiert geworden sei. Heute realisiere ich: nicht meine Einstellung zur Arbeit hat sich verändert, sondern jene zur bedingungslosen Leistungserwartung.
Ich arbeite noch genauso gerne wie früher - dann, wenn ich kann. Und wenn nicht, dann will ich mir die Zeit nehmen. Auch wenn es mal 138 Tage braucht.